Familien-Fahrrad-Buch von Gunnar Fehlau (Leseprobe Delius Klasing Verlag 2011)

Leseprobe Familien-Fahrrad-Buch von Gunnar Fehlau

Interview mit Lilo Franzen

Kinder lernen Rad fahren

Lilo Franzen, Bonner Fahrradschule

„Wichtig für eine hervorragende Gehirnreifung ist eine ausgiebige Krabbelphase.“

Radfahren lernen ist eine komplexe Sache. Wie finde ich heraus, auf welchem Entwicklungsstand mein Kind ist und welches Fahrzeug das beste in dieser Phase ist?

Lilo Franzen: Folgende Fragen helfen weiter:

Wie mutig und geschickt ist mein Kind?

Wie reaktionsschnell und sicher ist es im Alltag, wenn es sich bewegt? Hat es Spaß an der Bewegung und an Fahrzeugen, oder ist es ängstlich und unsicher? Gut entwickelte motorische Fertigkeiten sind für erfolgreiches Radfahren lernen viel entscheidender als das Alter und die Größe des Kindes. Gehen Sie die Stufen der kindlichen Entwicklung durch und wählen Sie das nächste Fahrzeug erst, wenn ihr Kind die vorhergehende Stufe ausgiebig erfahren und üben konnte. Beginnen Sie mit dem Laufrad, dann folgt auf jeden Fall der Roller und erst dann ein verhältnismäßiges kleines Lernrad – aber bitte ohne Stützräder! Parallel erlaubt sind Dreirad, Gokart und Trampel-Traktor. Alle Kinderfahrzeuge sollten kindgerecht und qualitativ hochwertig verarbeitet sein, damit das Lernen wirklich Spaß macht. Wählen Sie ein Fahrradfachgeschäft, in dem Sie kompetent, ausführlich und kindgerecht beraten werden. Lassen Sie sich und ihrem Kind Zeit. Entschleunigen Sie das Lernen. Leistungsdruck ist kontraproduktiv!

Welche geistigen und körperlichen Aktivitäten begünstigen das Radfahrenlernen?

LiLo Franzen: Mobilität von Anfang an! Beginnen Sie sofort mit einem intensiven und abwechslungsreichen frühkindlichen Spiel- und Bewegungsangebot. Wichtig für eine hervorragende Gehirnreifung ist eine ausgiebige Krabbelphase. Lassen Sie das Baby seine Umwelt ausführlich erkunden. nie wieder in unserem Leben werden so viele bahnbrechende neuronenverbindungen neu geknüpft wie in den ersten beiden Lebensjahren. Sprechen Sie alle Sinne an! So fördern Sie von Anfang an die Wahrnehmungsfähigkeiten ihres Kindes. Hier wird die Basis gelegt für schnelles und erfolgreiches Lernen in allen Lebensbereichen wie Schule, Sport und Alltag – also auch für das Radfahrenlernen. Lassen Sie früh überprüfen, ob ihr Kind wirklich gut sehen und hören kann.

Welche geistigen und körperlichen Aktivitäten begünstigt das Radfahren?

LiLo Franzen: Alle! Beim Radfahren werden Gleichgewicht, Koordination, Ausdauer, Wahrnehmung und geistige Entwicklung intensiv geschult. Bewegungsaktive Kinder, die ihr Wohnumfeld mit dem Rad neugierig erkunden, legen wichtige Meilensteine für das Lernen in der Schule an. Außerdem fördert das gemeinsame positive Erleben von Raum und Natur besonders wichtige episodische Gedächtnisbereiche und schult alle Sinne und Wahrnehmungsebenen auf einmal. Kinder lernen am besten über sinnliche Verknüpfungen und Erlebnisse. Kann das Kind sicher Rad fahren, hat es verschiedene Bewegungsmuster automatisiert.

Es muss nicht mehr darüber nachdenken, wie es sich bewegen soll. Erst dann kann es gleichzeitig – im Multitasking – Gefahren rechtzeitig wahrnehmen, rasch reagieren, reden und den Weg erkunden. So ist hervorragende Wahrnehmung gezielt auf einer höheren und wesentlich schnelleren Plattform möglich. Das Kind erwirbt so eine komplexe Handlungskompetenz, die sich auf alle Lebensbereiche auswirkt. intensive Raumerfahrung und die Wahrnehmungsverarbeitung zeitlicher Abfolgen mit allen Sinnen legen Grundbausteine für das Begreifen von Raum und Zeit, und damit die Basis für Schulfächer wie Mathematik, Physik, Chemie, Informatik, Erdkunde und Biologie. Auch Fremdsprachen lernen, spannende Aufsätze verfassen und sichere Rechtschreibung haben hier ihre Wurzeln.

In welcher Wechselwirkung stehen körperliche Bewegung und schulischer Lernerfolg?

LiLo Franzen: Ein vielfältiges körperliches Bewegungsangebot ist für Kinder in jedem Alter Pflicht! Jede gesparte Stunde TV- oder PC-Konsum wirkt sich positiv aus. Je mannigfaltiger und spannender die einzelnen Bewegungsaufgaben sind, desto dichter, sicherer und schneller werden die neuronen im Gehirn verknüpft – die Voraussetzung für gelingendes schulisches Lernen in allen Fächern. Dann macht die Schule auch Spaß und gelingt. Bewegen sich Kinder bei Sport und Spiel in Gruppen mit anderen Kindern, so schult dies neben den motorischen Fähigkeiten auch hervorragend die Teamfähigkeit jedes einzelnen.

Welchen Rat geben Sie Eltern ängstlicher Kinder?

LiLo Franzen: Bleiben Sie gelassen und haben Sie Verständnis für ihr Kind, denn Angst hat immer einen Grund. Dafür kann ihr Kind nichts! Meist fehlen dann noch einige der wichtigen motorischen und sensomotorischen Entwicklungsschritte. Die motorischen Fertigkeiten sind für das Radfahrenlernen viel entscheidender als das Alter des Kindes. Vergleiche mit Gleichaltrigen verschlimmern nur die Situation für ihr Kind, machen es traurig und beschämt. Suchen Sie Hilfe, ergründen Sie, wo die Lernblockaden und damit die Ängste liegen. Finden Sie heraus, welche ganzheitliche Entwicklungs- und Bewegungsförderung ihrem Kind weiterhelfen kann. Erkundigen Sie sich nach einer Fahrradschule für ihr Kind.